Thomas Mießgang – “Ewige Wiederkehr des Immeranderen”
Die Geburt der Geisterbilder aus dem Geist der Musik
Das Leben ist in den letzten Jahren ziemlich gespenstisch geworden. Nach dem vom unseligen Francis Fukuyama zu Beginn der 1990er Jahre diagnostizierten ´Ende der Geschichte hat sich wieder recht viel Geschichte ereignet, welche die Wiederkehr eines Immergleichen zelebrierte, das man zivilisatorisch eigentlich für längst überwunden erachtet hatte. Stichwort: Ukraine. Gute Zeiten, so würde man meinen, für hauntologische Entelechien als Instrumente zur Diagnose von Gegenwartsbefindlichkeiten.
Der Begriff Hauntologie von Jacques Derrida, ein Portmanteau aus Haunting und Ontologie, verknüpft die Heimsuchung mit der Lehre vom Sein und verzaubert seit rund zwei Jahrzehnten sowohl die Geschichtswissenschaft als auch das kulturelle Milieu, das sich gerne von Geistern aus der Vergangenheit berauschen lässt. Es geht um die geisterhafte Persistenz von Elementen aus der Vergangenheit, die wie Aliens in die Gegenwart hineinragen. Oder, wie es in „Hamlet“ heißt: „Die Zeit ist aus den Fugen.“
Es ist nun keineswegs so, dass die Geisterbilder von Ronald Kodritsch als direktes Resultat einer hauntologischen Weltsicht entstanden wären. Der Künstler betont, dass es ihm nicht um die Semantiken geht, die sich mit der Vorstellung vom Geist verknüpfen, sondern um die Form an sich: „Für mich ist das ein abstraktes Motiv. Ich kann mich mehr auf die Malerei und die Farbvariationen konzentrieren, wenn die Form schon einmal da ist.“ Serien, bei denen ein vorgegebenes Motiv durch eine Reihe von variativen Patterns dekliniert wird, hat Kodritsch schon etliche hergestellt, darunter „Bikinimädchen“ oder „Stanley Road“, wo Traktoren auf unterschiedliche Weise ins Bild gesetzt werden.
Trotzdem ist es nicht von der Hand zu weisen, dass in dem mittlerweile bereits überaus umfangreichen Zyklus der Geisterbilder der Zeitgeist eines ´Mal du Siècle schattenhafte Spuren hinterlässt. Kodritsch hat mit dieser locker komponierten Serie bereits 1999 begonnen und seinen stilisierten Lakengespenstern unterschiedliche Gestalten und Erscheinungsformen verordnet. Oft ist die Szenerie auf den Bildern in ein giftiges Dunkelviolett getaucht, die schemenhaften Figuren scheinen trüben Tätigkeiten nachzugehen, die sich nicht zur Gänze erschließen lassen und werden gelegentlich vom gleichermaßen tenebreusen Hintergrund geradezu geschluckt. Es gibt in diesem aufs Übersinnliche zielenden Milieuzusammenhang Flaschengeister, Malergeister, solche, die als Double auftauchen und andere, denen fast schon Cronenberg-artige Extensionen aus ihren stoffumhüllten Körpern wachsen. Es mag auch sein, dass einige dabei sind, die man rief und nun nicht wieder los wird. Ronald Kodritsch hat seine maltechnischen Etüden über das Thema „Theres a ghost in my House“ lange Zeit als spielerisches Durcheinanderwirbeln von Klischees und seiner jeweils persönlichen Gestimmtheit betrieben, wobei der Umgang mit dem Motiv ein recht freizügiger war. In letzter Zeit sind die Geister zwar nicht verschwunden, aber ihre Darstellung folgt anderen, strengeren, reduktionistischeren Parametern. Bei dem ebenfalls schon zahlreiche Werke umfassenden Subkapitel „Geist auf Couch“ wird genau das im Titel verheißene Programm realisiert. Dadurch kommt mehr Struktur und Konsistenz in den Geisterreigen, gleichzeitig wird der Künstler freigespielt, um sich auf Farbauftrag, koloristische Finessen und Mikrokalibrierungen in der künstlerischen Gestaltung zu konzentrieren. Und da gibt es im Rahmen der minimalistischen Grundkonzeption eine Fülle von variativen Digressionen. Mal blitzt das Ensemble aus Figur und Liegemöbel als weißer Fleck aus einem mit groben Strichen gefertigten und dunkel gehaltenen Hintergrund heraus, dann wiederum wird die Séance als behagliche Homestory mit Wohnzimmerlampe und stark kontrastierenden Farbvaleurs inszeniert. Mal ist die ganze Szenerie in ein durch weiße Schlieren aufgehelltes Tintenblau getaucht, so dass das titelgebende Ensemble nur in seinen Konturen erkennbar bleibt oder der Prospekt, vor dem sich die Couch in obszönen Brauntönen abhebt, wirkt, als habe ihn Jackson Pollock, allerdings mit erweiterter Farbpalette, in Action Painting-Manier hingepinselt.
Wenn man die gesamte Geist-auf-Couch-Serie als Ensemble, das noch keineswegs abgeschlossen ist, betrachtet, dann wirken die einzelnen Module zwar wie abgeschlossene Einheiten, die aber erst im Zusammenspiel ihre volle Wirkung entfalten. Der bekennende Musikfreak Ronald Kodritsch stellt selbst eine Verbindung zum Ein-bis-Drei-Akkorde-Punk der späten 1970er Jahre her, dessen formal äußerst reduzierte akustische Sinneinheiten erst im Zusammenspiel mit einer Jugendbewegung zu jenem anschwellenden Bocksgesang wurden, an den man sich heute noch gerne erinnert. Noch suggestiver ist allerdings der Konnex zur klassischen Minimal Music, die am Höhepunkt des postseriellen Glasperlenspiels der zeitgenössischen Musik ein pazifisch geprägtes akustisches Gegenprogramm entwarf, das auf Repetition und tranceartige Klangverdichtung zielte. Im Zusammenhang mit „Geist auf Couch“ ist weniger die Terrassenharmonik von Philipp Glass oder die Phasenverschiebungsästhetik des frühen Steve Reich relevant als die auf mikrozellulären Verkettungen beruhende Kunst von Terry Riley, im besonderen sein bahnbrechendes Werk „In C“ aus dem Jahr 1964, das für eine beliebige Zahl unspezifizierter Ausführender komponiert wurde. Das Stück besteht aus 53 kurzen, nummerierten musikalischen Phrasen mit einer ausführlichen Spielanweisung des Komponisten: Jede Phrase kann beliebig oft wiederholt werden, jeder Musiker entscheidet selber, wann er zur folgenden Phrase übergeht. Daraus entsteht ein komplexes Gewebe mit rhythmischen Verschiebungen und klanglichen Überlagerungen, wobei aber die von einem durchgehenden Puls vorangetriebene Grundform als permutierende Urzelle immer durchscheint. Es geht also nicht um die Originalität melodischer Einfälle oder die Raffinesse kompositorischer Durchführungspraktiken mit dem heiligen Text der Partitur als Basis für eine linientreue Aufführungspraxis, sondern um ein befreites Jonglieren mit einer akustischen Grundgestalt. Dies wird besonders dann sinnfällig, wenn man in Rechnung stellt, dass „In C“ nicht auf einen definierten Orchesterapparat angewiesen ist wie beispielsweise die Symphonien von Gustav Mahler, sondern in jedem nur vorstellbaren musikalischen Environment realisiert werden kann. So wie „Geist auf Couch“ die schlichte Grundkonstellation durch eine Vielzahl von Farb- und Formvariationen transponiert, hat die Komposition von Terry Riley sich im Laufe ihrer beinahe 60-jährigen Geschichte in den unterschiedlichsten Klanggestalten materialisiert: Von der kaum mehr überblickbaren Masse an Einspielungen seien hier nur ein paar besonders markante herausgegriffen: Das Shanghai Film Orchestra brachte 1989 eine Platte heraus, bei der das Werk auf traditionellen chinesischen Instrumenten mit alternativen Stimmungen und ungewöhnlichen Klangfarben aufgenommen wurde. Das Klavier-Ensemble Piano Circus folgte 1990 mit einer Produktion, bei der nur dieses Instrument zum Einsatz kam und das japanische Psychedelic Rock-Ensemble Acid Mothers Temple & the Melging Paraiso U.F.O. gab der Sache im Jahr 2003 einen Spin ins Halluzinogene. Die bis heute ungewöhnlichste und am weitesten vom Urtext entfernte Aufnahme ist allerdings jene des Africa Express aus dem Jahr 2015, wo sich afrikanische Musiker wie Adama Koita und Cheick Diallo mit den westlichen Popstars Damon Albarn und Brian Eno verbündeten, um einen transgressiven Klang aus der Diaspora zu realisieren. „Das Stück klingt von Aufführung zu Aufführung zu dramatisch unterschiedlich,“ heißt es auf der Website Pitchfork.com, „dass es nie altern kann.“
1) Joe Tangari: Africa Express presents ….Terry Rileys In C in Mali, https://pitchfork.com/reviews/albums/20145-africa-express-africa-express-presents-terryrileys-in-c-mali/ So wie bei „Geist auf Couch“ das Lakengespenst auf dem Liegemöbel nur Vorlage und Vorwand ist, um ein Spiel von sehr unterschiedlichen malerischen Turbulenzen zu entfesseln, so kann man die minimalen Phrasen von Terry Rileys „In C“ als Point of Departure betrachten, von dem aus die Reise in alle möglichen Richtungen und existentiellen Dimensionen gehen kann.
Es geht somit bei Ästhetiken, die auf variative Wiederholung gegründet sind, wie bei Ronald Kodritsch, den ursprünglichen Punkmusikern, den Minimalisten, natürlich auch den Produzenten von Techno- oder Goa Trance-Musiken um das fortlaufende Wiedererscheinen eines bereits künstlerisch Festgeschriebenen. Man kann in diesem Zusammenhang Friedrich Nietzsche zitieren: „Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in derselben Reihe und Folge.“
2) Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Viertes Buch, Aphorismus 341 (KSA 3, 1980, S. 570).
Doch es handelt sich bei „Geist auf Couch“ eben nicht um die Wiederkunft des Immergleichen, sondern um das frequente Erscheinen eines Immeranderen, das auf einem formal definierten Basis-Pattern künstlerische Stepptänze aufführt. Als Vergleichsmaterie bringt Ronald Kodritsch noch ein weiteres Thema ins Spiel: „Auch der Blues ist eine simple archaische Form, die seit Jahrzehnten aufgefrischt und neu belebt wird. Auch im Blues gibt es Trance-Momente, in die man reinkippen kann.“ Und in der Person des Minimal-Pioniers LaMonte Young ereignet sich sogar eine Engführung des Dispositive Blues und der Minimal Music. Denn der Komponist, der zu einem der bedeutendsten Propagandisten von just intonation zählt, also einem System der reinen Stimmung, das Mikrointervallik zum wesentlichen Bestandteil der klanglichen Produktion macht, gründete 1993 die „Forever Bad Bluesband“, welche die Blue Notes der traditionellen Bluesmusik mit seinen jenseits des dodekaphonischen Systems angesiedelten Kompositionstheorien amalgamierte und so einen halluzinatorischen Klang erzeugte, der die Archaik mit dem Elfenbeinturm versöhnt. „Two Hours, one song.“ hieß es damals im Rolling Stone. “The closest so-called art music had ever taken me to true groove heaven.”
3) David Fricke, Rolling Stone, zit. nach https://www.melafoundation.org/fbbpress.htm
Lasset uns bilanzieren: Ausgehend von der Geist-auf-Couch-Serie haben wir uns in relationaler Approximation an das System Musik ein Paradigma erarbeitet, das unter einfachsten konzeptionellen Bedingungen einen Hurrikan an existentiellen Verwirbelungen erzeugen kann. Wenn eine Motivik, sowohl im Akustischen wie auch im Visuellen so deutlich markiert wird, dass sie durch Überpräsenz geradezu verschwindet, entsteht ein projektiver Raum, der einerseits mit ganz konkreten Klang- oder Bildereignissen gefüllt werden kann, andererseits aber auch mit unterschiedlichen Asservaten aus dem Begehrenskanon. Die gespannte Erwartung auf das ewig unerwartete Neue wie man es von Netflix-Produktionen oder Tarantinofilmen kennt, erlischt und stattdessen findet ein Feintuning statt, das über alle semantischen und metaphorischen Konnotationen des Motivs hinweg, einen neuen Raum aufschliesst, in dem die vom Sinn entlasteten Zeichen zu flottieren beginnen und als materielle Spuren zu identifizieren sind. Die Insistenz der Signifikantenkette, wie Lacan sagen würde, entfaltet ihre hypnotische Kraft und eröffnet ein Spiel, in dem sich Fragen nach Gegenständlichkeit oder Abstraktion erübrigen und die Malerei als reine Kraft wenn schon nicht erscheint, so doch zumindest denotiert wird. Noch einmal Nietzsche: „Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ‚Du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‘ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem ‚ willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?‘ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!“
4) Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Viertes Buch, Aphorismus 341 (KSA 3, 1980,S. 570).