Psychoanalyse und Humor – Ronald Kodritschs Inszenierung des Übernatürlichen – Nadia Ismail
Hell strahlen die gemalten Körper in nächtlich anmutender Dunkelheit. Mittelpunkt eines jeden Gemäldes der Serie Ghosts violett (2009–2010) sind Wesen, die der Künstler Ronald Kodritsch in nahezu stereotyper Gestalt auf die Leinwand bringt. Weiß gewandet, mit dunklen leeren Augenhöhlen, ohne sichtbare Nase und Mund, zeichnet sich die immer gleiche Physiognomie durch einen konischen Körper ohne Extremitäten aus. Lediglich auf singulären Arbeiten versieht der Österreicher seine Geister rudimentär mit Gliedmaßen, indem ein einzelner Arm wie zum stummen Gruß nach oben gereckt ist. Auch die Umgebung bleibt diffus und gestattet, durch ein Mauerwerk angedeutet, Rückschlüsse auf urbane Strukturen sowie überdies durch das Setzen von vereinzelten Baumstämmen auf naturnahe Settings.
Die Geister, die Kodritsch rief, oszillieren malerisch zwischen geradezu kindlich anmutender Harmlosigkeit, die an die Illustration des 1966 erschienenen Kinderbuchklassikers Das kleine Gespenst von Otfried Preußler erinnert, und unheilverkündenden Zwischenwesen, deren Ausdeutung ihres Gebarens der Imagination der Betrachterinnen obliegt. Alle Arbeiten eint hingegen die Suggestion einer nächtlichen Szene, evoziert durch die Farbgebung, die zwischen blaustichigem Lila und nahezu völliger Schwärze variiert. In Verschränkung mit den Geistererscheinungen stellt der Künstler eine Verknüpfung von ‚Geschehen‘ und ‚Nacht‘ her, die einen imaginativen Raum für Träume, Halluzinationen, Ängste und Wünsche eröffnet. Die lockende Finsternis der Nacht wird zum mentalen Freiraum und weckt zugleich ein diffuses Gefühl von Furcht.
Laut der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen bringt „[…] Die Dämmerung […] nicht nur die Drohung gefährlicher Unordnung und, mit dieser verschränkt, den Wunsch, gesellschaftliche Kontrolle auf nächtlichen Schauplätzen herzustellen, sondern auch das Versprechen einer Befreiung von den Gesetzen des Tages. […] Der Schutz der Dunkelheit bietet eine Alternative zum Tag, eine Chance, dessen Gesetze zu überschreiben. Dabei erweist sich die Transgression ebenfalls als ambivalent. Mal wird die nächtliche Szene als Ort befreiender Subvention idealisiert, mal als Schauplatz unheilvoller Bedrohung dämonisiert. […] Entscheidend ist vielmehr, dass nächtliche Schauplätze die Grenze zwischen äußerer und innerer Erfahrung verflüssigen.“
Indem Kodritsch als Stilmittel die innerbildliche Ambivalenz von harmlos-kindlich zu unheimlich-drohend anwendet, verstärkt durch den Mangel an (Tages-)licht, evoziert er eine visuelle und mentale Transformation der Bildinhalte. „Die Dunkelheit der Nacht birgt Orte, die den Ausbruch aus Alltagszwängen ebenso erproben lassen wie eine revolutionäre Umkehrung der herkömmlichen Ordnungen. Deren ungenügende Sichtbarkeit lässt eine Welt des Zwielichts entstehen, ein Pendant zur Welt der Vernunft und Gehorsamkeit: Einen Schauplatz für Gewalt, Schrecken, Verbrechen sowie fatale Lockungen.“
Der Wechsel von deutlich Sichtbarem hin zu vage Umrissenem bewirkt eine Verunsicherung in der Einordnung und eröffnet in gleichem Maße den Raum für den Bereich der Fantasie und des Traums. Es erfolgt eine Hinwendung von äußeren zu inneren Bildern, die von kulturellen sowie individuellen Erfahrungen geprägt sind. Der Verweis in eine unkontrollierbare Sphäre von Möglichkeiten auf surrealistische Strategien und das dort propagierte Potenzial des Unbewussten.
Mit dem ersten Manifest des Surrealismus formte sich 1924 um André Breton die Gruppe der Surrealisten. In einem Artikel in der Zeitschrift Littérature (1919) formuliert André Breton sein Ziel, sich von dem Bewussten ab- und dem Unbewussten zuzuwenden, dessen Ausprägung in seinem ersten surrealistischen Manifest am 15. Oktober 1924 erweitert und verdeutlicht wird. Für den Wortführer der Surrealisten unterdrücken der Rationalismus, die Zivilisation und der Fortschritt, mit seinem Zwang zur Nützlichkeit, den ursprünglicheren Teil des Menschen, das Unterbewusste und damit die Fähigkeit zur Imagination. Bretons Intention ist die Aktivierung des Verborgenen im menschlichen Geist durch künstlerische Mittel. Die Einbeziehung des Unterbewussten und des Traums bildet für ihn einen essentiellen Teil des Surrealismus.
Die Kombinatorik disparater Elemente, wie sie im Traum vorkommt, ist ein stilprägendes Merkmal des Surrealismus. Auch Ronald Kodritsch wendet die Technik partiell an, wenn er seine Gespenster-Selbstbildnisse mit Bärten (I’m getting old, 2009) versieht und gleich Portraits berühmter Personen oder in Manier einer Ahnengalerie aneinanderreiht. Das Ergebnis ist ebenso witzig wie visuell überzeichnet. Überdies blitzt in den Gemälden immer wieder eine ebenfalls humorvoll gebrochene, sexuelle Komponente in den Werken hervor. So richtet sich in der Arbeit Ghosts violett e (2009/2010) im wahrsten Sinne des Wortes ein zweites Gespenst im Schoßbereich der Geisterscheinung phallusförmig auf. Auch in dem Gemälde der Maler und seine Frau (2020) ragt eine überdimensionale, männliche Erektion, die in das Loch einer Malerpalette sticht, in dem sich üblicherweise der Daumen des ‚Schöpfers‘ befindet und mutet wie eine ironische Insignie des Künstlers an. Diese überzeichnete Inszenierung von Männlichkeit evoziert eine Nähe zur ‚Logik‘ des Traums beziehungsweise Traumsprache, welche vertraute Wahrnehmungsmuster irritiert und enttäuscht. Kodritschs Arbeiten erfüllen Merkmale traumhafter Zustände, zu denen instabile Identität, außer Kraft setzen von Raum und Zeit sowie Kausalgesetze, logische Brüche, Diskontinuitäten, fehlende Kohärenz, unzuverlässiges Erzählen und Multiperspektivität zählen. Diese lassen an Freuds Traumentstellungsmechanismen denken. Gepaart mit der Thematik des Übernatürlichen, in der Regel den Augen entzogenen, erlaubt das einen Bogenschlag zur Freud’schen Theorie über das Unheimliche.
Die Bedeutung des Unheimlichen wird von dem Sprachforscher Daniel (Hendel) Sanders (1819–1897) und dem Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) im Wörterbuch der Deutschen Sprache (1860–65) etymologisch gefasst. Nach Sanders stammt das Wort ‚unheimlich‘ als Antonym von ‚heimlich‘, in der Bedeutung von häuslich, heimelig, vertraut ab, woran Schelling mit seiner erweiterten Beschreibung des Heimlichen anschließt, indem er definiert: „Un-[heimlich] nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.”
Sigmund Freud (1856–1939) wertet hingegen die Vorsilbe ‚un‘ zudem „als Marke der Verdrängung.“ Für ihn konstituiert sich ‚das Unheimliche‘ primär durch den Prozess verdrängter Wünsche, die sich in transformierten und verklausulierten (inneren) Bildern in das menschliche Bewusstsein drängen und sich häufig in einer Dichotomie von Wissen und Nichtwissen, Vertrautem und Unvertrautem beziehungsweise Bekanntem und Unbekanntem darstellen. Laut Ernst Anton Jentsch (1867–1919), einem weiteren Kopf in der Frühzeit der Psychologie, hegt der Mensch Zweifel, ob unbeseelte Gegenstände wie Wachsfiguren, kunstvolle Puppen und Automaten nicht doch beseelt sein können und entwickelt im umgekehrten Falle den Zweifel an der Beseeltheit eines (scheinbar) lebendigen Wesens. Das Unheimliche entsteht also durch die Ungewissheit des Lesers, ob der Protagonist der Erzählung eine ‚reale‘ Person oder ein Automat ist. Dieses Gefühl muss subtil bleiben, ohne direkte Aufklärungsvorschläge, da sonst das Unheimliche mit der Erkenntnis schwindet.
Ronald Kodritsch verwebt seine Geister geschickt mit dieser und anderen Hypothesen der Psychoanalyse. Die unermüdliche Wiederholung des Motivs des Künstlers – Freud sieht in der unbeabsichtigten Wiederholung eine Quelle des Unheimlichen – sowie die überzeichneten männlichen Genitalien (Phallusneid) in den Gemälden Kodritschs kann als Spielart der Freud‘schen Wiederkehr gedeutet werden.
Freud konstatiert, dass im seelischen Unterbewusstsein ein triebhafter Wiederholungszwang herrscht, der das ‚Ich‘ auf infantile Komplexe hinweist und sich im Akt des Essens, Trinkens und im Beischlaf äußert. All dasjenige, was einem außerhalb seiner Triebwelt als Wiederholungszwang begegnet, macht die Objekte oder Umgebung unheimlich und verleiht ihnen einen ‚dämonischen‘ Charakter. Statt einer unbeabsichtigten Wiederholung steuert Kodritsch die motivische Wiederkehr bewusst und schlüpft damit gewissermaßen in die Rolle des Psychiaters.
Auch die Werkreihe Geist auf Couch (2022) lässt eine psychoanalytische Lesart zu. In einer Vielzahl von Variationen malt er Geister, die sich entspannt auf einer Chaiselongue ausstrecken – dem Möbel der Psychoanalyse schlechthin – einen ‚Arm‘ lässig über den Rand des Möbels gelegt, den Blick direkt zu den Betrachterinnen gewandt. Ausdruckslos glotzen die leeren Höhlen den Betrachterinnen entgegen und scheinen auf eine Aktion des Gegenübers zu warten. Durch den Blick aus dem Bildrahmen heraus schlüpfen die Betrachterinnen unweigerlich in die Rolle von Psychiater*innen, die die seelischen Leiden der Geister ergründen müssen. Nicht selten brennt über dem Möbel eine Pendelleuchte, die als verheißungsvolles Symbol erhellender Erkenntnis gelesen werden kann. Das skurrile Setting in Verschränkung mit dem definitorischen Begriff von Geist manifestiert ein begriffliches Paradoxon, das sich auf die Motivik ausweitet. Denn einerseits bezeichnet Geist die kognitiven Fähigkeiten des Menschen als vernunftbegabtes Wesen, die Ratio, die den homo sapiens vom Tier unterscheidet. Andererseits meint er die Vorstellungskraft, das Wahrnehmen, Erinnern und die Kraft der Fantasie. Der Geist, den Kodritsch in seinem Oeuvre thematisiert, versinnbildlicht humorvoll die Gegenpole und erweitert das Geist-Genre um eine seltene Facette der Kunst – den Humor.
Nadia Ismail